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120 Jahre Filmgeschichte im Falkenhaus

Großzügiger Nikolaus löst Kinoboom aus

- Würzburg -
 
Der Nikolaus hat in der Filmabteilung der Stadtbücherei ganz schön für
Wirbel gesorgt. Seit dem 6. Dezember letzten Jahres kosten Spielfilme im
Falkenhaus keine Ausleihgebühr mehr und dieses cineastische Geschenk
kommt bei der Kundschaft sehr gut an. „Wir hatten mit mehr Ausleihen
gerechnet, aber sicher nicht in dieser Größenordnung. Rund sechsmal so
viele Filme gehen seit Änderung der Gebührensatzung über die
Buchungsterminals. Wir erleben einen Boom wie vor 15 Jahren, als wir die
ersten Spielfilm-DVDs ins Sortiment aufgenommen haben“, berichtet
Michael Wenisch, der im Falkenhaus die Film-Sparte verantwortet. 

Das Interesse an „Kino fürs Wohnzimmer“ ist riesig, die Gebühr von 1,50
€ pro Film und Woche verhinderte aber offensichtlich bislang manch
schönen Filmabend. „Seit 2010 gingen die Ausleihen um rund 80 Prozent
zurück, dieser Trend hat sich nun über Nacht wieder ins Gegenteil
verkehrt“, freut sich der Bibliothekshauptsekretär. Die Sammlung von
aktuell rund 2000 Spielfilmen hegt und pflegt der gebürtige Coburger mit
einer Hingabe, die auch im Urlaub nicht endet. Zahlreiche in Deutschland
vergriffene Produktionen wurden schon bei Aufenthalten in England,
Italien oder Frankreich besorgt. Die Filmmärkte sind in Europa durchaus
unterschiedlich und auch für die Rubrik Fremdsprachenkino kann man immer
Nachschub gebrauchen.

Um auf dem Laufenden zu bleiben, studiert Wenisch diverse
Neuerscheinungs- und Empfehlungslisten: vom epd-Filmdienst bis zum
jpc-Onlinehandel. Vielversprechende Kinotrailer sorgen gleich für eine
Notiz auf der Einkaufsliste. Auch der Austausch mit den Cineasten, die
ins Falkenhaus kommen, spielt eine große Rolle bei der Filmauswahl. Etwa
15 bis 20 der jährlich rund 120 Neuanschaffungen erfüllen ganz konkrete
Wünsche. 

Eine regelmäßige Auswertung der Ausleihstatistik zeigt, ob man den
Geschmack der Kundschaft trifft. Ein beliebter Film wird etwa 20 Mal im
Jahr ausgeliehen. Und welcher Streifen ist über die Jahre betrachtet die
Nummer eins bei den Würzburgerinnen und Würzburgern? Wenisch macht im
Interview eine kurze Pause wie bei der Oscar-Verleihung und gibt dann
den Gewinner bekannt: die griechische Komödie „Zimt und Koriander“ aus
dem Jahr 2003 hat offensichtlich mit über 130 Ausleihen bislang das
ultimative Erfolgsrezept gefunden. Dieser Film ist auch gleichzeitig ein
typischer Vertreter in der städtischen Sammlung. Vordergründig geht es
um die Magie des Kochens, man erfährt aber auch viel über das Verhältnis
Griechenlands zur Türkei und umgekehrt. Die Abteilung setzt auf
Klassiker oder Filme, die das Zeug zum Klassiker haben. Isabelle Huppert
und Mads Mikkelsen kommen da auf eine bessere Trefferquote als Vin
Diesel und Chuck Norris. „Wir wollten nie nur die günstigere Videothek
sein“, bringt Wenisch den eigenen Qualitätsanspruch auf den Punkt.
Aktuell beherbergt man im Falkenhaus 120 Jahre Filmgeschichte. „Die
Reise zum Mond“ von 1902 macht chronologisch den Anfang. Ein aktueller
Hit ist beispielsweise „Der Rausch“ mit eben besagtem Mads Mikkelsen in
der Hauptrolle. Ende 2021 auf DVD und Blu-ray erschienen, bleiben die
vier Exemplare im Falkenhaus und in den Zweigstellen aktuell kaum einmal
nachts in der Bücherei.

Generell werden mit dem Sortiment ganz unterschiedliche Geschmäcker
bedient. Wer sich nicht einfach in den Regalen im ersten Stock verlieren
möchte, kann im Onlinekatalog gezielt nach folgenden Kriterien suchen:
Titel, Regisseur, Schauspieler, Genres, Länder, Jahre und Zeiträume,
Filmpreise, Filmklassiker, Fremdsprachenkino, Literaturverfilmung,
Filmkanon, Labels, Sprachen und Hörfilmfassungen. In einigen Bereichen
setzt die Sammlung seit Jahren besondere Akzente und so sind zusätzliche
Schlagworte vergeben für: Arbeitslosenfilm, Flüchtlingsfilm, Kochfilm,
Lesbenfilm, Schwulenfilm, Lateinamerika, Naher Osten, Skandinavien und
Bildrestaurierung. „All diese Kategorien sind zusätzliche Wegweiser
durch unser Angebot. Nur nach Titel in alphabetischer Reihenfolge suchen
zu können, wie man es auch in größeren Kaufhäusern bisweilen erlebt, ist
doch sehr mühsam. Die Kategorien lösen nur selten Diskussionen aus,
manchmal aber schon. Die Übergänge von der Komödie zur Tragikomödie sind
beispielsweise sicher fließend und auch vom vorherrschenden Humor eines
Landes abhängig. Wir freuen uns über solche Rückmeldungen und nehmen
diese natürlich wiederum sehr ernst“, schmunzelt Wenisch, der ein
besonderes Faible für das französische und dänische Kino hat.

Einen Qualitäts-Anspruch zu verfolgen, heißt laut Wenisch nicht, dass
es keine erfolgreichen Kinokassenschlager geben darf. Vor Jahrzehnten
scheuten manche Bibliotheken noch populäre Genres wie Krimis oder
Thriller, diese elitäre Philosophie sei aber längst überwunden – auch in
der Welt der DVDs, Blu-rays oder UHDs. Wenisch gibt aber zu, dass er
Filme dann als besonders wertvoll erachtet, wenn diese nicht nur gut
unterhalten, sondern auch noch einen Einblick in ein fremdes Land, eine
andere Kultur/ Subkultur oder eine andere Zeit liefern. Wer die 2000
Filme der Stadtbücherei ansieht, soll auch viel von der Welt entdecken.
Wenisch schätzt in seinem filmbegeisterten Leben selbst rund 1400 der
aktuellen Falkenhaus-Auswahl schon einmal auf der Leinwand oder am
Bildschirm gesehen zu haben. Der 60-Jährige wurde so nach und nach zu
einem wandelnden Filmlexikon. Der Assistent für wissenschaftliche
Bibliotheken hat die Gabe, die Quintessenz von Werken wiedergeben zu
können – ohne zu viel zu verraten. Auch kuriose Bezüge und
Anspielungen kommen bei diesen Zusammenfassungen und Appetithappen nicht
zu kurz. Wenn Josef Hader als Privatdetektiv Brenner in „Silentium“ von
einem Modellflugzeug verfolgt wird, erkennt Wenisch die Anspielung auf
Hitchcocks „Der unsichtbare Dritte“. Entsprechend schätzen viele
Bücherei-BesucherInnen seine Expertise und Empfehlungen.*) Andere
KundInnen überprüfen gezielt eine der vielen Bestenlisten, die es zur
Filmkunst gibt. Die Bundeszentrale für politische Bildung erarbeite
beispielsweise im Jahr 2003 unter Einbindung von Filmschaffenden,
FilmhistorikerInnen und FilmkritikerInnen einen Kanon von 35 Filmen, die
man gesehen haben sollte, die Stadtbücherei hat sie alle im Angebot. 

Abgerundet wird die Filmauswahl durch weitere verwandte Medien im Haus:
Soundtracks, Lexika sowie Sachbücher oder Bildbände über Legenden vor
und hinter der Kamera. Die Bibliothek ist zudem ein guter Ausgangspunkt
für alle, bei denen durch einen Spielfilm das Interesse an einem Thema
geweckt wurde. Wer Stanley Kubricks „Full Metal Jacket“ gesehen hat,
findet auch viel geschichtliches Material über die Zeit des
Vietnamkriegs. Wer nach „A Clockwork Orange“ mehr über Jugendgangs,
Resozialisierung oder Beethoven erfahren möchte, kann ebenfalls viele
vertiefende Medien ausleihen.

Apropos: Gibt es eine Begrenzung, wie viele Filme man auf einmal
ausleihen darf? Nein, derzeit nicht. Wenisch konnte zwar schon einmal
einen Büchereibenutzer beobachten, der zunächst überall kleine Stapel
bildete und schließlich 34 DVDs auf einmal aus dem Falkenhaus
abtransportierte. So spart man - Büchereiausweis vorausgesetzt - mal
eben 51 Euro, um noch einmal auf den 6. Dezember zurückzukommen. Doch
auch in Zeiten von Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen ist ein solche
Ausleihpraxis der seltene Ausnahmefall und es blieb bislang immer noch
eine gute Auswahl im Haupthaus zurück. Die Ausleihfrist beträgt zwei
Wochen und kann dreimal verlängert werden. Diese Zeit kann man für
unterschiedliche Werke nutzen, oder um endlich einmal die geschätzten
Dialoge eines Lieblingsfilms auswendig zu lernen. Es kann natürlich auch
ein Monolog sein:  „(…) Ich kann mich nicht daran erinnern, wann du mich
zum letzten Mal in Dein Haus zu einer Tasse Kaffee eingeladen hast.
Dabei ist meine Frau die Patentante Deines einzigen Kindes. Aber lass
uns ganz offen sein: Du hast nie Wert auf meine Freundschaft gelegt und
hast dich gefürchtet, in meiner Schuld zu stehen. Dein Geschäft geht
gut, die Polizei ist da, um Dich zu beschützen. Außerdem gibt es
Gerichte. Wozu noch einen Freund wie mich? Aber jetzt kommst du zu mir
und sagst: „Don Corleone verschaff mir Gerechtigkeit!Aber Du zeigst
mir keinen Respekt, bietest nicht etwa Freundschaft. Du sagst noch nicht
einmal Pate zu mir. Nein, stattdessen kommst du am Hochzeitstag meiner
Tochter in mein Haus und bittest mich, einen Mord zu begehen - für
Geld."

*) 
Filmtipps aus dem Falkenhaus
Wenischs Sehenswertes Dutzend

Bittersüße Schokolade (Arau)
Corpus Christi (Komasa)
Die Frau, die singt (Villeneuve)
Ein Herz im Winter (Sautet)
Ferien (Arslan)
Goldenes Gift (Tourneur)
Komm und sieh (Klimow)
Mademoiselle Chambon (Brisé)
Nader und Simin (Farhadi)
Renoir (Bourdos)
Sein und Nichtsein (Lubitsch)
Sue – eine Frau in New York (Kollek)
(Titel, Regie)

Großes Kino: Michael Wenisch ist in der Filmabteilung der Stadtbücherei der „Programmdirektor“. Seit 1990 arbeitet er im Falkenhaus, in den letzten 15 Jahren entstand eine breit aufgestellte Sammlung mit Werken aus 120 Jahren Filmgeschichte. Bild: Georg Wagenbrenner Bild „Wenisch“