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Geboren, um zu leben

Wie kann ‚gutes Leben‘ in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung gelingen?

Würzburg/Eisingen  Das haben die Leiterin eines Klosters, der Chef der Justizvollzugsanstalt Würzburg, eine Selbstvertreterin im Bundesvorstand der Lebenshilfe und der Geschäftsführer des St. Josefs-Stifts in Eisingen gemeinsam? Sie kennen sich alle bestens aus mit einem Leben zwischen äußeren Zwängen und Selbstbestimmung. Bei der inklusiven Fachtagung „Geboren, um zu leben“ der Robert-Kümmert-Akademie diskutierten sie im Eisinger St. Josefs-Stift darüber, was ein ‚gutes Leben‘ in ihren Institutionen ausmacht und stellten sich den Fragen der rund 140 Teilnehmenden mit und ohne Behinderung.

 

In einer Gesprächsrunde wurden Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutlich: Während die Insassen im Strafvollzug nicht freiwillig in der JVA sind, sei das bei den Oberzeller Franziskanerinnen ganz anders, wie Schwester Katharina Ganz, Generaloberin des Klosters, schmunzelnd erzählte. Doch auch wenn der Aufenthalt in im Gefängnis nicht freiwillig erfolgt, zeigte Leiter Robert Hutter auf, dass auch hier gutes Leben möglich ist.

 

„Viele Häftlinge sind süchtig nach Alkohol und Drogen. Bei uns haben sie die Chance, davon wegzukommen. Sie können bei uns ihren Schulabschluss nachholen oder einen Beruf erlernen. Und: In der JVA haben sie einen geregelten Tagesablauf und ganz neue Perspektiven“, erklärte Hutter. Perspektiven aufzuzeigen und Zugehörigkeit zu erleben, mache auch das Leben bei den Oberzeller Franziskanerinnen – die unter anderem das Antonia Werr-Zentrum betreiben – aus, betonte Schwester Katharina. „Es ist kein Zufall, dass Schwestern älter werden, als der Bevölkerungsdurchschnitt. Jede von uns bringt sich nach ihren Talenten und Fähigkeiten ein, das gibt dem Leben Sinn.“

 

Nach dem guten Leben im St. Josefs-Stift befragt, sagte Geschäftsführer Bernhard Götz:„Wir bieten ein großes Angebot – von unterschiedlichen Wohnformen über Freizeitangebote bis hin zur Seelsorge. Im Stift gibt es ein eigenes Theater, Kiosk, Kneipe, den Seniorenclub und ein riesiges Außengelände. Ich denke, das alles ist der Garant für gutes Leben im Stift.“ Mit Blick auf seine Tätigkeit ergänzte er: „Diese Angebote ständig auszubauen, ist meine schönste Aufgabe. Andererseits haben wir einen engen finanziellen Rahmen und das Geld in unserem Feld ist eigentlich immer knapp.“

 

Selbstvertreterin Ramona Günther formulierte Forderungen für gutes Leben in Einrichtungen der Behindertenhilfe. „Die Bewohnerinnen und Bewohner müssen gehört werden! Einer sitzt vielleicht im Rollstuhl, wieder jemand anderes ist blind - alle haben individuelle Bedürfnisse, auf die eingegangen werden muss. Mitsprache und Mitbestimmung sind wichtig.“ Das bestätigte auch Prof. Theo Klauß, Professor für Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung und Mitglied im Bundesvorstand Lebenshilfe. Er machte das Thema Ethik anschaulich.

 

„Ethik heißt: Es gibt Regeln, die für alle Menschen für ein gutes Zusammenleben wichtig sind.“ Nach Martha Nussbaum, Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik in Chicago brauche es zehn Voraussetzungen für ein gutes Leben: Zum Beispiel Schutz vor Gewalt, Bindung und Beziehungen zu anderen Menschen, Austausch und Zugehörigkeit sowie Selbstbestimmung über das eigene Leben. Dies gelte für alle Menschen, ob mit oder ohne Behinderung: „Es ist unsere Pflicht, für ein gutes Leben für alle Menschen zu sorgen“, appellierte Prof. Klauß.

 

Aufmerksam verfolgt wurde der Selbstbericht einer Schülerin, die derzeit ihre Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin an der Dr. Maria-Probst-Schule absolviert. Aufgrund familiärer Probleme hat die heute 20-Jährige selbst einen Teil ihrer Kindheit und Jugend im Antonia Werr-Zentrum verbracht. „Aus heutiger Sicht bin ich dankbar für meine Zeit dort, weil ich Wertschätzung erfahren habe und die Erzieher*innen mir gezeigt haben, dass ich etwas schaffen kann im Leben.“ Beruflich profitiert sie von den Erfahrungen: „Regeln sind wichtig, sollten aber immer individuell gestaltet werden – ich kenne die andere Seite und kann mich sehr gut in die Klient*innen hineinversetzen, wenn zu starre Regeln mit ihrer Selbstbestimmung und ihren Wünschen kollidieren.“

 

In Workshops konnten die Teilnehmenden anschließend selbst erarbeiten, was für sie zu einem guten Leben gehört. Die Themen reichten von der Frage „Was ist Glück?“ über „gutes Wohnen in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung“ bis hin zu einem Workshop mit einer Stil- und Ernährungsberaterin, die verschiedene gesunde Lebensmittel, gute Düfte und schöne Accessoires im Gepäck hatte. Eine Gruppe griff das Motto „Geboren, um zu leben auf“ und studierte einen Tanz mit den Teilnehmer*innen ein. Die Aufführung setzte einen eindrucksvollen Abschlusspunkt unter die Fachtagung.

 

Der Einladung nach Eisingen folgten Besucher*innen aus Maria Bildhausen, dem Blindeninstitut, der Wohnanlage Arche, der Lebenshilfe Schweinfurt, der Dorfgemeinschaft Hohenroth, den Werkstätten des Blindeninstituts und den Mainfränkischen Werkstätten, sowie dem St. Josefs-Stift und der Schwestereinrichtung Erthal-Sozialwerk und einigen weiteren Einrichtungen. „Wir freuen uns über die zahlreichen Teilnehmenden aus den unterfränkischen Einrichtungen“, so Christel Baatz-Kolbe, Geschäftsführerin der RobertKümmert-Akademie. „Mit dem Thema und dem Format haben wir offensichtlich den richtigen Nerv getroffen.“ Die inklusive Fachtagung wird einmal jährlich von der Robert-KümmertAkademie veranstaltet. Auch der nächste Termin steht schon fest: Am 17. November 2020 wird im St. Josefs-Stift zum Thema „Digitale Teilhabe“ getagt.

 

Über die Robert-Kümmert-Akademie

Die Robert-Kümmert-Akademie ist im Jahr 2000 als eigenständige Einrichtung aus dem St. Josefs-Stift Eisingen, einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung im Landkreis Würzburg, hervorgegangen. Sie hat sich zu einem der größten Bildungsanbieter im Bereich der Fort-, Aus- und Weiterbildung im Bereich sozialer Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung in der Region Unterfranken entwickelt. Unter dem Dach der Robert-Kümmert-Akademie befinden sich die Dr. Maria-Probst-Schule, staatlich anerkannte Fachschule für Heilerziehungspflege und Heilerziehungspflegehilfe, das Institut für Fort- und Weiterbildung, der Bereich Erwachsenenbildung für Menschen mit Behinderung und die Herzenssache Würzburg, eine Kontakt- und Partnervermittlung für Menschen mit Behinderung.

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Bild 1: (v.l.): Schwester Katharina Ganz, JVA-Chef Robert Hutter, Selbstvertreterin Ramona Günther, Moderatorin Christel Baatz-Kolbe und Bernhard Götz, Geschäftsführer des St. Josefs-Stift und des Erthal-Sozialwerks, diskutierten auf dem Podium, was gutes Leben zwischen Regeln und Selbstbestimmung ausmacht. XXX Bild 2: In kürzester Zeit studierten einige Teilnehmende einen Tanz zum Lied „Geboren, um zu leben“ mit und ohne Rollstuhl ein. XXX Bild 3: Im Workshop zum „schönen Leben“ zeigte eine Stil- und Ernährungsberaterin anhand verschiedener Düfte, Accessoires und gesunder Lebensmittel, wie leicht sich das Leben verschönern lässt. XXX Bild 4: Wie kann gutes Leben in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung gelingen? Aus Einrichtungen und Werkstätten aus ganz Unterfranken waren die Teilnehmenden gekommen, um darüber zu diskutieren. XXX Bild 5: Die Ergebnisse der Workshops waren so vielfältig wie zahlreich: „Gutes Leben“ ist individuell, und doch sind einige Voraussetzungen universell, für Menschen mit und ohne Behinderung gleichermaßen