Hierher kommen Frauen, die vor Gewalt fliehen müssen. Menschen, die nachts aus ihrer Wohnung stürzen, weil eine Panikattacke sie überfiel. Oder auch Männer und Frauen, die niemanden mehr haben, mit dem sie reden können. „Dass die Würzburger Bahnhofsmission ein derart großes Spektrum abdeckt, hätte ich niemals gedacht“, meinte Thomas Oppermann, Vizepräsident des Deutschen Bundestags, der die ökumenische Einrichtung am Dienstag besuchte.
Auch in Göttingen, der Heimatstadt des SPD-Politikers, gibt es eine Bahnhofsmission. Die hat jedoch bei weitem nicht den Würzburger Umfang. „Ich dachte immer, Bahnhofsmissionen seien vor allem dafür da, Menschen zu helfen, die sich am Bahnhof nicht auskennen“, so der Parlamentarier. Doch Bahnhofsmissionen, erfuhr er, tun weit mehr. Sie unterstützen alle Menschen, die Hilfe benötigen. Im vergangenen Jahr hatte die Würzburger Einrichtung 46.000 Mal Kontakt mit Männern und Frauen in Not. „Viele unserer Klienten haben dabei mehr als nur ein Problem“, berichtete Einrichtungsleiter Michael Lindner-Jung.
Mit der Würzburger Bahnhofsmission lernte Oppermann eine besonders gut ausgestattete Anlaufstelle kennen. Nur sechs weitere Bahnhofsmissionen im Bundesgebiet haben rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr geöffnet. Dass die Würzburger Bahnhofsmission ihren hohen Qualitätsanspruch halten kann, ist nicht zuletzt dem Einsatz der vielen Ehrenamtlichen zu verdanken, erfuhr der Bundestagsvizepräsident.
Mehr als 30 Frauen und Männer engagieren sich derzeit gemeinsam mit den Hauptamtlichen freiwillig für die Einrichtung am Hauptbahnhof. „Sieben stammen aus Syrien“, erläuterte Lindner-Jung. Der Einbezug von Ehrenamtlichen mit Migrationshintergrund ist der Bahnhofsmission ein wichtiges Anliegen. Schließlich wird die Einrichtung von immer mehr Menschen aufgesucht, die nach Deutschland geflüchtet oder aus anderen Ländern hierher zugewandert sind. Deshalb begann die Bahnhofsmission vor mehr als einem Jahr, ein interkulturelles Team aufzubauen.
Jedes Jahr erhält die Bahnhofsmission auch einen erklecklichen Spendenbetrag von ihrem Förderverein, in dem sich weitere Ehrenamtliche engagieren. „Heuer waren es 40.000 Euro“, berichtete Helmut Fries, der dem Verein vorsitzt. Ohne dieses Geld wäre vor allem der Nachtdienst gefährdet, denn öffentliche Mittel fließen nicht in dem Maße, dass die Bahnhofsmission den Rund-um-die-Uhr-Dienst aus eigener Kraft finanzieren könnte. Auch dies vernahm Oppermann mit Interesse. Er versprach, sich für eine bessere finanzielle Unterstützung der Bahnhofsmissionen in Deutschland einzusetzen.
Dies, wurde am Beispiel Würzburg sichtbar, wäre nicht zuletzt aus präventiven Gründen sinnvoll. „Hier werden Menschen in Krisen sehr früh aufgefangen“, erkannte Oppermann. Teilweise handelt es sich bei den Gästen der Bahnhofsmission um Bürger, die nirgendwo anders nach Hilfe fragen würden, ergänzte Lindner-Jung. Negative Erfahrungen mit Behörden, Diensten und Profis aus dem Hilfesystem haben Misstrauen wachsen lassen. An die Bahnhofsmission, wissen die Gäste, können sie sich wenden, ohne dass ihnen irgendetwas übergestülpt wird. Lindner-Jung: „Wir helfen nur, wenn wir von den Menschen selbst einen Auftrag bekommen.“
Diesen Grundsatz zu beherzigen, fällt nicht immer leicht. Denn von außen betrachtet erscheint es oft zwingend notwendig, bestimmte Schritte in die Wege zu leiten, damit die Betroffenen aus ihrer prekären Lebenssituation kommen. Doch manche Gäste sind noch nicht bereit, sich nicht helfen lassen. Dies vor allem dann, wenn sie psychisch oder seelisch erkrankt sind.
„Mit solchen Menschen haben wir es immer häufiger zu tun“, so Lindner-Jung. Dass die Gäste teilweise keine Krankheitseinsicht haben, bedeutet für das Team seiner Einrichtung eine Herausforderung. Ihrer eigenen Wahrnehmung zufolge sind alle anderen um sie herum verkehrt. Nur sie selbst nicht. Diese Menschen zu lassen, ohne sie zu etwas zu zwingen, was sie selbst nicht wollen, erfordert ein hohes Maß an Empathie, Verständnis und Toleranz.
„Nimmt die Zahl psychisch kranker Menschen denn wirklich zu?“, wollte Oppermann wissen. Das kann Michael Lindner-Jung klar bejahen. Die aktuelle Fünf-Jahres-Statistik zeigt, dass die Zahl der Gäste mit psychischen Auffälligkeiten um 75 Prozent angestiegen ist. Angststörungen, Depressionen, Schizophrenie – die Haupt- und Ehrenamtlichen haben es täglich mit Gästen zu tun, denen es auch psychisch schlecht geht.
Immerhin gelingt es manchmal mit viel Geduld, individuelle Not zu lindern, zeigte Sozialarbeiterin Barbara Leim an einem Gast auf, der sein halbes Leben im Gefängnis verbracht hatte. Dieser Mann kannte nur zwei Arten, sich - sprichwörtlich - durchs Leben zu schlagen: „Entweder er schlug zu, oder er steckte Schläge ein.“ Irgendwann konnte Leim ihn davon überzeugen, dass eine rechtliche Betreuung eine große Hilfe für ihn wäre. „Seine Zustimmung habe ich mir mit einem Essen im Fast-Food-Restaurant erkauft“, lachte sie. Der Mann akzeptierte die Betreuerin. Er ließ sich auf ihre Führung ein. Und war bis zum heutigen Tag nicht mehr hinter Gitter.